Sie war den
Vorschlägen ihrer Eltern gefolgt und hatte eine kaufmännische Ausbildung in
einem metallverarbeitenden Betrieb gemacht und war sogar direkt übernommen
worden, weil sie zuverlässig ihre Arbeit erledigte. Das Ende ihrer Ausbildung
war einige Jahre her und sie saß immer noch, mit dem Rücken zum Fenster, an
ihrem Schreibtisch. Darauf stand ein einsamer Kaktus, der kaum gewachsen war,
seitdem ein Kollege ihn ihr geschenkt hatte, weil er ihn selbst nicht mehr
haben wollte.
Die Station
Messe-West tauchte auf, sie konnte einen Teil des tristen, grauen Messegebäudes
sehen, das wie ein monströser Klotz an einer viel befahrenen Kreuzung hockte
und wenn sie den Kopf nach rechts drehte, konnte sie den Stau auf der
Stadtautobahn beobachten. Der Zug hielt, einige stiegen ein, andere aus, und
dann ging es wieder weiter.
Diesen Teil
der Stadt kannte sie kaum. Sie war im Ostteil von Berlin aufgewachsen, und
hatte aus der Zeit auch noch einige Freunde behalten, die ebenfalls in Berlin
geblieben waren. Mit den anderen, die weg gezogen waren, hatte sie keinen
Kontakt mehr. Sie selbst hätte gar nicht gewusst, wo sie hätte hingehen sollen
und so hatte sie ihre Heimatstadt nie verlassen. Sie mochte Berlin, blieb aber
meistens in ihrem Kiez, ging ihrer Arbeit nach und wenn sie nach Hause kam,
kochte sie sich etwas, putzte ein wenig und las Romane oder ging ab und an mit
Freunden ins Kino. Die Tage unterschieden sich kaum voneinander.
Doch heute
war alles anders gekommen. Wie üblich hatte sie in einem Fantasy-Roman gelesen,
um sich auf der langen Fahrt nicht zu langweilen. Und sie war so vertieft in
die Geschichte der Hauptfigur Gwyneth, die auf ihrer Suche nach einem Heilstein
viele Herausforderungen zu meistern hatte, dass sie ihre Bahnstation quasi überlesen
hatte. Erst hatte sie sich über ihre Verträumtheit geärgert und ungeduldig auf
die nächste Haltestelle gewartet. Doch als die nächste Station sich näherte,
war sie sitzen geblieben. Und auch an der übernächsten war sie nicht
ausgestiegen. Sie wusste selbst nicht, was sie dazu bewogen hatte, nicht
einfach zurück zu fahren. Nicht wie immer an der gleichen Bahnstation
auszusteigen, die Treppen herunter zugehen, die Straße zu überqueren und in den
unpersönlichen Neubau ihrer Firma zu gehen und sich an ihren Schreibtisch zu
setzen. Und doch war sie einfach sitzen geblieben. Eine Station kam und ging
nach der anderen und sie, sie rührte sich einfach nicht vom Fleck und blickte
aus dem Fenster, unbeeindruckt von all den anderen Fahrgästen, die neben ihr
Platz nahmen und ihn später wieder freimachten.
Die Sonne,
die am Anfang des Tages noch milde geschienen hatte, hatte mittlerweile mehr
Kraft gewonnen und es wurde wärmer in der Bahn. Sie zog ihre braune Jeans-Jacke
aus und legte sie neben sich. Und schaute wieder aus dem Fenster. Straße um
Straße, Kiez um Kiez zog an ihrem Fenster vorbei und sie fragte sich, ob sie
bei der Arbeit wohl jemand vermissen würde? Machte es überhaupt einen
Unterschied, ob sie da war oder nicht? Hier in der Bahn gab es niemanden, der sie
wahrgenommen hatte. Bei der Arbeit würden sie sich sicherlich Gedanken machen,
das war noch nie vorgekommen, dass sie einfach nicht erschien und sich nicht
abmeldete. Doch das war ihr heute egal. Es war ihr sogar komplett egal, stellte
sie mit Erstaunen fest. Ja, eigentlich hatte sie überhaupt keine Lust, dort
jemals wieder hinzugehen. Sie atmete tief aus. Sie spürte, wie ihr Körper
weiter wurde und weicher.
Was würde
passieren, wenn sie alles hinter sich ließe? Würden ihre Freunde sie vermissen?
Würde sie ihre Freunde vermissen? Sie wusste es nicht. Doch wenn sie ehrlich zu
sich war, war klar, dass sie ihr nicht wirklich wichtig waren. Sie bekam ein
wenig Angst, was war nur los mit ihr, dass sie auf einmal alles in Frage
stellte? All das, was ihre Tage bisher gefüllt hatte, verlor mit jeder Runde
mehr an Wichtigkeit, verkam zu einer alten Erinnerung und machte Platz für eine
Leere in ihr, die ihr fremd war.
Sie kam
wieder an dem alten Flughafen Tempelhof vorbei, der zu einem großen Feld voller
Freiheit und unzähliger Möglichkeiten umgestaltet worden war. Menschen gingen
dort mit Hunden spazieren, Radfahrer fuhren die Asphaltwege entlang, auf denen
früher die Flugzeuge gestartet waren, um in die weite Welt zu fliegen. Sie
selbst war noch nie geflogen, zog es vor, still im Zug zu sitzen und die
Landschaften an sich vorbeiziehen zu lassen. Doch als sie in diesem Moment auf
das ehemalige Flughafengebäude sah, spürte sie ein leises Ziehen im Bauch. Wie
es wohl wäre, einfach irgendwohin zu fahren und ganz neu anzufangen? In einer
anderen Stadt, oder gar in einem anderen Land, wo sie niemanden kannte? Und wo
niemand Erwartungen an sie hätte? Wer würde sie werden können, wenn sie ihre
Geschichte neu schreiben könnte?
Einige
Stationen später taucht die Haltestelle Sonnenallee auf. Mitten in Neukölln,
einem bunten, lebhaften Kiez, der geprägt ist von Menschen, von denen die
meisten nicht viel Geld haben. An dieser Haltestelle betritt ein junger Mann
mit langen Haaren, Bart und Rucksack den Zug und fängt an, die Fahrgäste zu
begrüßen, schon während der Zug wieder Fahrt aufnimmt. Wie immer, wenn Bettler
die Bahn betreten, wendet sie sich ab und schaut nach draußen um zu vermeiden,
dass sie angesprochen wird. Auf einmal hört sie, dass das keine der üblichen
Bitten um eine kleine Spende für eine Unterkunft oder etwas zu essen ist,
sondern dass dieser Mann eine besondere Geschichte hat. Mit einem englischen
Akzent erzählt er, dass er seit Jahren schon die Welt bereist. Und jetzt Geld
sammelt, um nun nach Hause zu seiner Freundin zu fliegen. Er will si e
heiraten, denn sie sei nach Jahren des Wartens nun langsam etwas ungeduldig,
fügt er mit einem Lächeln hinzu. Sie spürt wieder ein Ziehen im Magen und in
ihren Beinen kribbelt es auf einmal. Sie wirft einen kurzen Blick zu ihm
hinüber, schaut wieder weg, durch das Fenster hinaus. Am Himmel sieht sie ein
Flugzeug entlanggleiten. Ihr Herz schlägt schneller: Jetzt oder nie, denkt sie
sich, greift ihre Jacke, steht auf und verlässt die Bahn, bevor die Türen sich
mit einem lauten Zischen wieder schließen.
Draußen weht
ein leichter Wind um ihre Nase, türkische Jugendliche hören mit ihrem Handy
laute orientalische Musik, zwei ältere Damen unterhalten sich über einen Film
„schultze gets the blues“, den sie am Abend vorher im Kino angeschaut haben.
Fahrgäste eilen die Treppen herunter, und nach einem Blick auf die Uhr folgt
sie ihnen, denn ihr Magen hat vernehmlich geknurrt. Sie geht die Treppen
hinunter, und läuft dann einfach die Straße entlang. Viele Altbauten sind dort
an der Sonnenallee, die meisten sind grau und wurden schon lange nicht mehr
renoviert. Auf der vierspurigen Straße, die in der Mitte von einem
hochbewachsenen Grasstreifen geteilt wird, fahren viele Autos entlang. Auf den
Bürgersteigen drängeln sich die Menschen, vorbei an Falafel-Imbissbuden,
Handygeschäften, Kiosken und Ein-Euro-Shops.
Sie lässt
sich treiben, ohne zu wissen, wohin sie eigentlich geht. Aus einer Tür riecht
es auf einmal nach frischem Brot und sie geht hinein, um ihren Hunger zu
stillen. Drinnen kann sie sich kaum entscheiden, weil die Auswahl so groß ist,
doch dann zeigt sie mit dem Finger einfach auf irgendwelche kleinen
Gebäckteilchen und nimmt gleich drei Stück davon mit. Vor der Bäckerei bleibt
sie stehen und greift in die Tüte hinein und holt das erste heraus. Es trieft
vor Honig, der im Sonnenlicht fast zu strahlen scheint, und sie beißt
genüsslich hinein. Spürt, wie der Blätterteig leise knisternd zerbricht, bevor
ihre Zähne die darin enthaltenen Nusssplitter zerkleinern und der süss-nussige
Geschmack sich auf ihrer Zunge verbreitet. Der Honig läuft ihr am Zeigefinger
entlang und bei dem Versuch, sich einen Krümel auf dem Mundwinkel zu wischen,
verschmiert sie sich auch noch etwas Honig im Gesicht. Jetzt ist ihr alles
egal, sie greift beherzt in die Tüte und verschlingt die beiden restlichen
Teilchen nacheinander, ohne darauf zu achten, wohin der Honig fließt. Sie
wischt sich die noch vorhandenen Krümel aus dem Gesicht und geht zurück in die
Bäckerei. „Könnten Sie mir vielleicht eine feuchte Serviette geben, ich habe
etwas gekleckert“ lächelt sie den Verkäufer mit dem runden Bauch und dem
grau-schwarzen Bartstoppeln an. Er lächelt zurück, geht an ein Waschbecken,
befeuchtet ein Tuch und reicht es ihr über den Tresen. Sie wischt sich mit dem
kühlen Lappen über ihr Gesicht und entfernt die klebrigen Reste des köstlichen
Gebäcks.
Mit einem
„Danke“ geht sie wieder hinaus auf den Bürgersteig. Dort setzt sie sich auf den
Fenstersims der Bäckerei und lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Die
Wärme färbt ihre Haut zart rot, während sie genüsslich dem Geschmack auf ihrer
Zunge nachschmeckt. Und auf einmal erinnert sie sich an die Nachmittage mit
ihrer Großmutter, als sie mit ihr leckere Kuchen gebacken hat, und knusprige
Kekse mit bunten Verzierungen. Der Geruch von warmer Butter und Zucker steigt
ihr in die Nase, als würde sie wie damals auf dem Stuhl stehen, in der Schüssel
rühren und mit Hilfe ihrer Großmama einen Kuchen backen. Es war schon lange
her, aber sie erinnerte sich mit einem wohligen Seufzen daran, wie sehr sie
diese Nachmittage genossen hatte. Seitdem die Großmutter gestorben war, hatte
sie nie wieder gebacken.
Ganz
plötzlich bekommt sie den Impuls, im Büro anzurufen. Sie holt ihr Handy aus der
Tasche und ruft ihre Kollegin an. „ Ich bin es, ich wollte mich melden. Es ist
mir nichts passiert, es geht mir gut.“ Sie hört ein paar Sekunden zu, was ihre
Kollegin sagt und antwortet dann: „Tut mir leid, aber heute ist alles anders
gekommen. Ich komme heute nicht mehr ins Büro.“ Sie packt das Handy zurück,
steht auf, streckt sich und geht in die Bäckerei zurück und sagt zu dem Mann
hinter dem Tresen: Hallo, mein Name ist Lisa. Können Sie mir beibringen, wie
man diese Teilchen bäckt?
(Meine allererste Kurzgeschichte, geschrieben für die Lesebühne So noch nie am 22. Mai 2017)
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